Vergiftet, entmannt oder exekutiert – Kieler Agententhriller von Hannes Nygaard
Hannes Nygaard lässt seinen LKA-Fahnder Lüder Lüders zwischen Agententhriller, Querdenkern und Rechtsextremismus ermitteln. Gleich der erste Tote wird mit allen möglichen abgeschnittenen Körperteilen von einem nichtsahnenden Camper-Pärchen entdeckt. Dann werden die Hauptfiguren von Hannes Nygaard der Reihe nach vorgestellt und die nächste Leiche bringt die Handlung in Schwung. Was hat das Kieler Rüstungsunternehmen damit zu tun? Gibt es einen Zusammenhang zum rechtsextremen Milieu? Hannes Nygaard schafft es viele aktuelle Fragen in die Handlung mit einzubauen.
Emons Verlag, Broschur, ISBN 978-3-7408-1333-8, mehr zum Buch HIER
288 S., 13,00 EUR, erschienen 26.08.201, über den Autor mehr HIER
Zu allererst, das ist meine erste Begegnung mit Hannes Nygaard Lüder Lüders vom LKA Kiel, also der erste „Hinterm Deich Krimi“ von Hanns Nygaard (Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard). Ich bin schnell in die Handlung und die Personen reingekommen, es werden keine „Vorkenntnisse“ vorausgesetzt. Das ist schon einmal gut. Als Regionalkrimi von Hannes Nygaard der an der Küste spielt, werden meine Erwartungen an Deich, Friesen und Schafe ein Stück erfüllt. Auch ohne Deich, Friesen und Schafe kommt norddeutsche Stimmung auf. Der Rentner Karl Diehm und seine Frau Rita machen im Wohnmobil Fiat Ducato Urlaub im Norden. Eigentlich kommen sie aus dem Arbeiterstadtteil Salzgitter-Lebenstedt, er hat bei VW gearbeitet, sie als Kassiererin im Supermarkt. Nun finden sie bei Hannes Nygaard unter einer Reichskriegsflagge einen Toten auf einen Mühlstein drapiert. Und als ob das nicht als Urlaubserinnerung reicht, ist seine Zunge abgeschnitten, seine Augen ausgestochen und seine Ohren abgeschnitten. Super. Darauf erst einmal einen Dujardin, oder zwei oder drei auf Hannes Nygaard.
Nun kommen durch Hannes Nygaard Kripo-Kommissar Lüder Lüders und seine Kollegen zum Einsatz. Die Auswertung der Funde am „geografischen Mittelpunkt Schleswig-Holsteins“ geht los (warum wird danach nicht einfach von Nortorf gesprochen – ist „geografischer Mittelpunkt Schleswig-Holsteins“ so literarisch?). Bei Hannes Nygaard untersucht Pathologe Dr. Diether, Kriminaldirektor Dr. Jens Starke unterstützt, die Maschinerie macht sich an die Arbeit. Der Tote ist oder besser war Julian Wiesner („Jule“). Pikanterweise war er im Innenministerium beim Verfassungsschutz beschäftigt, genauer gesagt beim Referat Rechtsextremismus. Das wiederum passt nach Hannes Nygaard ja gut zur Reichskriegsflagge. Zu der Tat am „Knecht der Deutschland GmbH“ bekennt sich das „Kommando Schlieffen“. Gibt es eine Verbindung zu „den Wölfen“ in Schleswig-Holstein, die sich als Alternative Lebensform zusammengetan haben und den Kaiser wieder zurückholen wollen? Geert Mennchen vom Verfassungsschutz wirkt betroffen, spielt aber nach Hannes Nygaard sein eigenes Spiel und hält wichtige Informationen gegenüber der Kripo zurück.
Die Aktualität des Krimis ist faszinierend. Hannes Nygaard beschreibt schon eine Handlung bei Corona (was aber nur an ganz wenigen Stellen explizit sichtbar wird). Er greift die Querdenker und Reichsbürger auf, hier kommen Bilder aus den aktuellen Nachrichten sehr bekannt vor. Er lässt seine Figuren Fragen stellen wir „Gibt es einen rechtsfreien Raum?“ oder „Wo endet das Liberale?“. Also sehr aktuelle Themen, die er hier gut lesbar anspricht. Hannes Nygaard lässt Lüder Lüders mit Sören Michalski, dem Chef vom rechten Aussteigercamp „Sonnenhof“, mehrseitige Dialoge zu Recht, Ordnung und Freiheit in den letzten 150 Jahren führen. Sind Querdenker etwa Vordenker? Was machen „fake news“ mit uns oder was können sie in der Gesellschaft als Ganzes ausrichten? Hannes Nygaard greift hier eine Reihe wichtiger Diskussionen der letzten Jahre auf, die aktuell politisch und gesellschaftlich eine wichtige Rolle spielen. Er geht bis hin zu Themen wie „bei Hitler wäre das nicht passiert“ und „in der DDR war alles besser“, ordnet sie in den Kontext ein und regt zum Nachdenken an. Wer beim Lesen keine Themen aus der Tagesschau mitnehmen möchte, dem sein dringend von der Lektüre von Hannes Nygaard abgeraten. Wem die Themen von Hannes Nygaard gefallen, dem empfehle ich auch Kreuzberg Blues von Wolfgang Schorlau.
Doch zurück zur Handlung bei Hannes Nygaard: Lüders wird vom Pathologen schon einmal als Kellenhusener Kleinstadt-Bond bezeichnet, allerdings erst nachdem dieser ihn Leichenschänder nennt. Kleine Neckereien, die bei den ganzen anderen schweren Themen Leichtigkeit in das Buch bringen. Die Autopsie bringt ans Licht, dass der Tote mit Kaliumchlorid vergiftet wurde, so schläfert man Tiere ein. Zunge und Ohren wurden aber noch lebend abgeschnitten. Aber damit nicht genug, der nächste Tote bei Hannes Nygaard ist Klaus Schwartow, Referatsleiter im Finanzministerium. Hier stellt sich bei der Obduktion heraus, dass ihm mit einem Regenschirm ein vergiftetes Kügelchen mit Rizin injiziert wurde. Makaberer Kommentar aus der Runde „Der ist doch nicht Nawalny“, wo mit der jetzigen Krise um die Ukraine ja die nächsten hochbrisanten Themen vom Autor erahnt wurden. Auch Bezüge zum Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke passen gut rein und werden von Hannes Nygaard in der Handlung aufgegriffen.
Bereits ein Vierteljahr vor den aktuellen Morden war bei Hannes Nygaard in Kiel ebenfalls Alwin Meierjoosten nach einem Einstich mit einem Regenschirm gestorben, ein Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums. Also doch MI6 und James Bond in Schleswig-Holstein? Oder KGB, Mossad oder andere? Die Spitze des Schirms war mit Quecksilber präpariert. Boulevardreporter Leif Stefan Dittert (Spitzname LSD) mischt sich auch in die Ermittlungen ein. Zusammen mit KHK Vollmers und Lüders vom LKA ist er nach Hannes Nygaard der Treiber der Handlung im Krimi. Was hat der linksextreme Arzt Dr. Jürgen Horst hiermit zu tun? Er wettert gegen die Verluste bei der HSH Nordbank und rechnet vor, dass man hier 27 Jahre lang alle Kitas hätte beitragsfrei stellen können. Noch während seine Rolle unklar ist, gibt es mit dem Gärtner Dirk vom Nazi-Camp Sonnenhof einen weiteren Toten. Ihm wurden die Genitalien abgeschnitten. Was hat bei Hannes Nygaard die Briefkastenfirma in Limasol auf Zypern damit zu tun? Sie ist als Eigentümer von Grundstücken und in weiteren Rollen in die Handlung involviert. Immer wieder wird auf den „Kieler Matrosenaufstand“ 1918 Bezug genommen, der das Ende der Monarchie einleitete. Wie gesagt, wer einfach nur einen Krimi ohne Anregungen zum Nachdenken sucht, der möge bitte statt Hannes Nygaard auf andere Autoren ausweichen.
Hannes Nygaard greift mit Hass- und Drohmails und Angriffen auf Politiker weitere sehr aktuelle Themen auf. Er thematisiert Angriffe auf Polizisten und den Sturm auf den Reichstag. Wer in der Lesepause den Fernseher anmacht und Berichte über Corona-Spaziergänge, die tödlichen Schüsse auf die Polizeibeamten in der Pfalz und andere Beiträge sieht, den überkommt bei der Aktualität vieler Themen des Buches von Hannes Nygaard eine Gänsehaut. Demonstranten vor dem Kieler Landtag, also bei Corona nichts Ungewohntes. Nur zwei Seitenhiebe auf einen bayrischen Verkehrsminister, der im Norden nicht die Strecken elektrifiziert haben sich seit dem Manuskript von Hannes Nygaard erledigt. Andi Scheuer ist ja nicht mehr im Amt. Auch der finale show-down ist Nygaard gut gelungen, hier möchte ich aber keine Details verraten um das Ende nicht zu spoilern. Insgesamt ein spannender Krimi mit sehr vielen recherchierten Details und viel Platz zum Nachdenken. Aber trotzdem ein sehr gut zu lesender Krimi von Hannes Nygaard, dem einen spannenden roten Faden durch den Filz und das Dickicht einer komplexen Thematik gelingt. Wer einen Küstenkrimi mit weniger schweren Themen sucht, dem sei zum Beispiel Rote Grütze mit Schuss von Krischan Koch, Totenstille im Watt von Klaus Peter Wolf, Nordlicht von Annette Hinrichs oder Mordsand von Romy Fölck empfohlen.
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